8.5.VOICES

Obwohl seit dem Kriegsende 1945 sehr viel Zeit vergangen ist, bleiben die Erinnerungen und die Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg und Versöhnung auch heute ungemein aktuell.

Diese Website basiert auf dem CD-Projekt "Ein Tag in der Geschichte Europas" aus dem Jahr 2005: Damals haben junge engagierte Menschen ihre Großeltern und Bekannten aus Deutschland, Polen und der Ukraine befragt, wie sie Krieg sowie Kriegsende erlebt haben.

Dank der Überarbeitung stehen euch auf dieser Webseite die Audios mit Transkripten sowie Erklärungen in allen drei Sprachen zur Verfügung. Wir laden euch ein, euch auf die erzählten Erinnerungen einzulassen und zu überdenken, welche Schlüsse wir daraus für die Gegenwart ziehen können.

Hans Jünger, Hans-Werner Fuchs

Hans Jünger

*1929 in Düsseldorf, Deutsches Reich

Nationalität: Deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Düsseldorf

 

■ Bäckersohn; drei Geschwister

 

Hans-Werner Fuchs

*1930 in Düsseldorf, Deutsches Reich

Nationalität: Deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Düsseldorf

 

häufige Teilnahme an der Kinderlandverschickung; Bruder als Soldat an der Front

Bombenangriffe in Düsseldorf

Transkript des Audios:

Sprecherin: Hans Jünger hat die ersten Bombenangriffe als Junge in Düsseldorf erlebt.

Hans Jünger: Da steigerten sich die Luftangriffe praktisch zu einem Inferno, man dachte, da war die Hölle aufgerissen. Oftmals zweimal, dreimal nachts ging der Alarm. War man gerade eingeschlafen, musste man wieder in den Luftschutzkeller. Ich hatte meistens meine Eltern immer damit belastet, wenn die unten waren, merkten die, dass ich mich auf den Treppenabsatz gesetzt habe und eingeschlafen bin. Dann kam mein Vater raufgerannt, holte mich runter und dann krachten schon die Bomben.
Ich erinnere mich, wie häufig die Menschen dann bei einem schweren Bombenangriff, man hörte die schweren Bomben ja runterrauschen durch die Luftverdrängung, zusammensaßen und beteten: Lieber Gott, lass uns doch lebend hier herauskommen, wir wollen doch gerne noch trockenes Brot essen. Und wie der Krieg zu Ende war, war das trockene Brot schon wieder vergessen.

Sprecherin: Hans-Werner Fuchs erlebte den Luftkrieg auf dem Lande. An die zerstörerische Kraft der Bomben erinnert er sich noch genau.

Hans-Werner Fuchs: Ich habe auch so eine Erinnerung, bei uns gegenüber war ein riesiger Bauernhof und die hatten ganz viele Hühner, ich hätte gesagt 1.000, waren bestimmt 500. Dann fiel die erste Bombe, da war ich in der ersten Etage. Und als die zweite Bombe kam, war ich im Parterre und bei der dritten Bombe war ich im Keller und dann kamen die Luftminen. Aber dann lagen bei uns Tausende von toten Hühnern und von dem Bauernhof war gar nichts mehr da.

Sprecherin: Eine Bombennacht wird Hans Jünger sein ganzes Leben unvergesslich bleiben. Sie hatte für ihn verheerende Folgen.

Hans Jünger: Auf dem Weg zurück komme ich über die Friedrichstrasse und da hörte ich in der Ferne, das war schon das Signal, es geht wieder los, das hörte sich ungefähr so an (Herr Juenger klopft auf den Tisch). In dem Augenblick rauschte eine Granatensalve über die LVA (Landesversicherungsanstalten) auf der Friedrichstrasse. Im selben Augenblick, ich kam gar nicht mehr zum Denken, eine riesengroße Explosion. Ich wurde also direkt ohnmächtig, lasse mich instinktiv fallen und im Unterbewusstsein hörte ich noch einen riesenschweren Aufschlag. Wie ich wach wurde, stießen meine Füße an so einen großen Block, den hatte die Granate oben, oberhalb aus den Etagen, rausgebrochen und er ist runtergestürzt. Und wäre der zwei Zentimeter weiter gestürzt, hätte ich mir meine Füße kaputt gemacht. So, und dann denke ich mir, was bist du so nass? Bist du am Schwitzen? Alles voller Blut! Granatsplitter im Kopf, hier waren Granatsplitter, links, einer über der Wade, rechts im Bein waren Granatsplitter, nur ganz kleine, aber die war rasiermesserscharf und das blutete gewaltig.

Hans Jünger, Ruth Fuchs

Hans Jünger

*1929 in Düsseldorf, Deutsches Reich

Nationalität: Deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Düsseldorf

 

■ Bäckersohn; drei Geschwister

 

Ruth Fuchs

*1931 in Düsseldorf, Deutsches Reich

Nationalität: deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Düsseldorf

 

■ erlebte Bombennächte in der Stadt; häufiger Schulausfall; hatte jüngere Geschwister, für die sie verantwortlich war

Die Nächte im Bunker

Transkript des Audios:

Sprecherin: In den letzten Kriegsjahren wurden die Bombardierungen zum Alltag, der Bunker war der einzig sichere Ort für die Zivilbevölkerung und wurde zum Lebensmittelpunkt. Ruth Fuchs musste bereits im Alter von zehn Jahren Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen.

Ruth Fuchs: Wenn nachts fünfmal Alarm war, ging man auch fünfmal [in den Bunker]. Ich war die älteste von drei Geschwistern und musste dann immer die Geschwister anziehen und die Koffer mitnehmen. Das fürchterlichste Erlebnis, das wir hatten: Wir hatten die kleinste Schwester vergessen, und es war ein Angriff und die war zu Hause. Der Bunker war verriegelt, meine Mutter durfte nicht raus. Aber was eine Frau für eine Kraft hat! [Männer, die bewacht haben?] Sie hat sich aufgemacht, ist in den Bombenhagel hinaus und hat meine Schwester dann geholt.

[Es war so, dass] der Bunker uns eine unwahrscheinliche Sicherheit gab. [Von 1940 an war ich ein halbes Jahr nur im Keller. Nachher erlebten wir dann, wie verheerend die Bomben waren und welche tiefen Löcher sie machten.←- nicht in Audioschnitt]

Sprecherin: Aber nicht für jeden war der lebensrettende Bunker zugänglich. So wurde der Zutritt für Zwangsarbeiter nicht gestattet.

Ruth Fuchs: In Eller [standen] zwölf Häuser, da war ein normaler Weg, gegenüber war ein kleiner Wald und da waren Fremdarbeiter untergebracht. Polen und Ukrainer durften nicht in den Bunker. Daraufhin haben sie sich einen Unterstand gemacht. Man muss sich das vorstellen: Eine Grube wurde ausgehoben und Sand drüber gemacht, Hauptsache man war [bei Bombenangriffen unterirdisch]. Man muss zweifeln, ob es einen Herrgott gibt, da ausgerechnet da eine Bombe [drauf fiel].

Sprecherin: Die Unmenschlichkeit des Regimes weckte jedoch die Zivilcourage einzelner.

Hans Jünger: Die Flak schoss, die ersten Splitter kamen herunter und dann kam auch eine hochschwangere Ukrainerin. Da war so ein fanatisierter „Blockwart“, nannte man das, die standen auf der untersten Stufe des Regimes. Die Ukrainerin kam also mühselig auch in den Kellerraum rein und der Blockwart schrie: „Raus, Raus! Nichtdeutsche haben hier nichts drin zu suchen!“

Dann hat der Blockwart die Türe aufgemacht und sie rausgedrückt. Draußen schoss die Flak infernalisch und in der Ferne hörte man die Bomben explodieren und sie [die Ukrainerin] war voller Angst und lehnte sich mit dem Rücken da an die Wand – völlig ungedeckt. Und dann kam mein Onkel angelaufen und fragte: „Was ist denn hier?“ Nahm sie wieder mit rein und in dem Augenblick, wo er die Ukrainerin wieder hereinbrachte, fing der Blockwart wieder an zu brüllen: „Die bleibt draußen, die hat hier nichts zu suchen!“

Da hat mein Onkel gesagt: „Die bleibt hier drin, die kommt nicht wieder raus!“ (Der Onkel brüllte im selben harten und lauten Ton wie der Blockwart.)

[Der Blockwart schrie] zurück: „Das gibt ein Nachspiel, da können Sie was erleben!“

Die Ukrainerin blieb also im Bunker. [Es ist zu keiner Folge gekommen.]

Als Zehnjähriger, Elfjähriger bekommt man das mit, man hat das vor Augen, ohne es in die Breite gefühlsmäßig auszudehnen, man erlebt das einfach.

Hans Jünger

Hans Jünger

*1929 in Düsseldorf, Deutsches Reich

Nationalität: Deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Düsseldorf

 

■ Bäckersohn; drei Geschwister

 

Deportation der Juden

Transkript des Audios:

Sprecherin: Mit der Reichsprogromnacht am 09. November 1938 erreichten die staatlich gelenkten Übergriffe auf die Juden ihren vorläufigen Höhepunkt. Hans Jünger wurde wie die meisten Bürger Düsseldorfs von dem Ausmaß der Habgier der Nazis überrascht.

Hans Jünger: Vorher war da eine Schule eingerichtet in der Synagoge. Da kamen die Kinder rausgelaufen mit dem Rabbiner, da ging die Tür auf, so wie in unseren Schulen, lärmend kamen sie heraus. Später war das alles aus. Aber, was ich dann erlebt habe: Auf einmal öffnete sich wie von Geisterhand auf einem dieser Türme der [abgebrannten] Synagoge eine Luke oben und heraus kam ein SA-Mann. Ich dachte, was macht der denn da oben, unten war das alles schon ausgebrannt, rauchgeschwärzte Fenster. Da griff er auf das Dach neben sich, da war in so einem goldfarbenen Rinnsal etwas bis unten in die Dachrinne geflossen. Ich vermute - das kann nicht Messing gewesen sein, das kam von oben von dem Davidstern, der aus Gold war, und bei der riesigen Hitze ist das geschmolzen. [Der SA-Mann] packte daran und kriegte es nicht ab. Dann nahm er seinen SA-Dolch und schob ihn darunter und rüttelte daran, um das [Gold] abzukriegen. Das hat er nicht geschafft, das war so fest verbacken mit dem Untergrund. Dann hat er die Klappe wieder zu gemacht, aus!

Sprecherin: Der Rausch der Täter schien grenzenlos und machte nicht einmals vor der Gefühlswelt eines kleinen Kindes halt. In den folgenden Erinnerungen verdeutlicht er den blinden Zerstörungswahn:

Hans Jünger: Ich gucke auf und oben in der dritten Etage wuchteten gerade zwei SA-Männer ein Klavier aus dem Fenster. Das stand schon halb draußen und schon kippen die das raus. Da schlug das mit einem Riesenknall auf die Straße und zersplitterte. Und in der Mitte der Straße auf der Fahrbahn lag eine große Menge von Mobiliar und Textilien, Kleider, Lampen und, was für mich heute am schlimmsten ist, viele Bücher waren dabei gewesen. In der Türe des Hauses stand ein kleiner jüdischer Junge. Der hatte eine Kippah, und hatte einen Vogelkäfig, so einen runden, umklammert, bleich wie die Wand. Und dann wusste ich: Das müssen Juden sein. Die Eltern waren noch in der Wohnung, offenbar. In dem Augenblick kommt ein SA-Mann aus der Türe und tritt ihm mit voller Wucht seines Stiefels den Vogelkäfig aus der Hand. Der polterte, das höre ich heute noch, über das Pflaster. [Der SA-Mann] geht hinterher und ergreift ihn, schmeißt ihn auf diesen aufgehäuften Schutthaufen und im gleichen Augenblick kam von der anderen Seite ein SA-Mann mit so einem großen Benzinkanister.

Sprecherin: Die brennenden Synagogen waren aber ein Teil des Vernichtungswahns des NS-Regimes. Die Deportation einer befreundeten Kaufmannsfamilie erlebte Hans Jünger aus nächster Nähe. Dass die betroffene Familie ihr Schicksal bereits ahnte, zeigte sich als Herr Jünger mit seiner Mutter tags zuvor einkaufen wollte. Da sagte der jüdische Händler:

Herr Jünger: Was brauchen Sie noch, nehmen Sie doch mit, soviel wie sie wollen, soviel wie sie wollen, nehmen Sie doch mit, liebe Frau. Sie (gemeint sind die Interviewer) ahnen ja schon was da kommt, nicht? Meine Mutter war ganz verstört, als ich später mit ihr wegging. Da hat er ihr mit Sicherheit gesagt: Meine liebe Frau, wissen Sie überhaupt nicht was los war?
Ein Großteil der Bevölkerung hat das gar nicht mitbekommen, das vollzog sich alles meistens heimlich. Ein paar Tage später kommen wir wieder hin [zum Geschäft des Händlers], da waren draußen Balken, da war das Tor zugenagelt. Über Nacht hatte man die gesamte Familie abgeholt.

 

Kriegsende

Sprecherin: Auch in den letzten Kriegsstunden riss die Propaganda des NS-Regimes nicht ab. Von Hitlers Tod am 20. April 1945 erfuhr Hans Jünger aus dem Radio.

Hans Jünger: Zur damaligen Zeit hatte mein Onkel ein sehr starkes Radiogerät bei uns abgestellt und da hatte ich den Radiosender Flensburg drinnen. Und da meldete sich am Mikrofon Admiral Doenitz. Erst kam Trauermusik und ich dachte mir: Was ist denn jetzt, wieso kommt keine Siegesmeldung, sondern Trauermusik? Dann sagte er (Doenitz): „Unser Führer Adolf Hitler ist im Kampf um Berlin in den vordersten Reihen gefallen. Er hat den Ehrentod erlitten."

Sprecherin: Auf das Hören verbotener Radiosender stand die Todesstrafe. Unbeeindruckt von der drakonischen Strafe hörte er bei Radio London den Zynismus der Engländer gegenüber Hitler.

Hans Jünger: Da sagte der eine Sprecher: „In Russland geht die Sonne auf und im Westen unter." Da sagte der andere: „Nein, nein, das ist umgekehrt: Für Hitler geht die Sonne im Westen auf und im Osten unter."

Sprecherin: Bei dem Einmarsch der Amerikaner in Düsseldorf erfuhr Herr Jünger von der Kapitulation Deutschlands.

Hans Jünger: „Achtung Achtung, Deutschland hat eine Militärregierung, befolgen Sie die Anordnungen der Militärverwaltung, liefern Sie alle Waffen ab!“ Und ich machte das Fenster auf, da stand auf der Kreuzung ein Jeep, ein amerikanischer Jeep mit zwei oder drei Amerikanern, die Schnellfeuergewehre im Anschlag, und dann wiederholten Sie das mit den Lautsprechern. Und da wusste ich, der Krieg war vorbei. Aber das nimmt man im Prinzip gar nicht so wahr, weil man nicht fassen kann, dass das Inferno plötzlich weg ist.

Hildegard Hintz

Hildegard Hintz

*1919 in Danzig (Gdańsk), Freie Stadt Danzig

Nationalität: Deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Danzig/Gdańsk

 

■ Heirat 1939 - Geburt von zwei Töchtern 1940 und 1942; Vertreibung nach Sachsen; Rückkehr nach Gdańsk; 1958 Aussiedlung in die BRD

Transkript des Audios:

Sprecher: Hildegard Hintz lebte bis 1945 im westpreußischen Danzig, wo sowohl Deutsche als auch Polen wohnten. Ihr Mann trat als Deutscher einer polnischen Gewerkschaft bei, um Arbeit zu finden. Als die Freistadt Danzig 1939 wieder ans Deutsche Reich angeschlossen wurde, nahmen die Nazis die Bevölkerung unter die Lupe. Für die Familie Hintz wurde ihre Verbindung zu Polen zum Nachteil.

Hildegard Hintz: Mein Mann war ja nun arbeitslos geworden, dadurch dass er in dem polnischen Verband war. Am 16. Juli haben wir geheiratet, und am 18. Juli sind wir in unsere Wohnung in die Kolkhoffgasse gezogen. Mein Mann und ich sind in die Kolkhoffgasse gegangen, und in derselben Nacht schellten sie an unserer Tür und ich ging und habe aufgemacht. Es war die Gestapo. Da wollten Sie sehen, die haben irgendwie rausbekommen, wir haben geheiratet und ob Gäste bei uns waren. Da mein Mann im polnischen Verband war, haben Sie geglaubt, dass Polen bei uns zu Gast waren. „Wir wollten nur mal sehen, wie es Ihnen geht und so“, und dann sind sie wieder gegangen, nachts um zwei. Das war meine Hochzeitsnacht.

[Wir haben keine polnischen Verwandten, nur dadurch, dass mein Mann in diesem polnischen Verband war, da waren wir schon derart gekennzeichnet, das, das ... Das reichte schon.

Der Schwiegervater, der hatte auf einem Schlachthof in Danzig gearbeitet und wie das unter Kollegen so ist, da haben die sich mal unterhalten und da hat er irgendeinen negativen Satz gesagt in Bezug auf, ja, die Juden sind auch Menschen oder so, und da hatte jemand ihn deshalb denunziert und da wollten sie ihn auch ... also, da sollte er desertiert [Anmerkung: stehen lassen? oder deportiert draus machen?] werden. Der hat das noch zeitig mitgekriegt, ist nach Polen gegangen, damals. Ja, das war gerade so auf der Kippe, die Tage waren so gezählt. Da ist er nach Polen gegangen und hat gearbeitet, er hat da gearbeitet. Meine Schwiegermutter ist nachgezogen und da waren die vielleicht ein halbes Jahr in Polen, bis der Krieg dann ausbrach.

Ja, die Gestapo kam immer noch bis zu dem Zeitpunkt, wo mein Mann eingezogen wurde, kamen die immer noch mal nachfragen und mal nachsehen, wie‘s uns ging und ich sollte auch einen äh, Deutschkursus machen. Ich habe das auch nicht verstanden. (...)

Aber, sie sind immer noch gekommen und haben immer gefragt, auch nach den Kindern, und mal geguckt, ob vielleicht Polen zu Besuch waren oder so. Ja, das haben die schon gemacht.

Es waren nicht so die Verhältnisse, wie sie hier sind, dass die Türken in Stadtteilen für sich sind und die Deutschen einen Stadtteil für sich haben. Wir haben das kaum gemerkt, dass da Polen, dass irgendwo mal in einem Haus eine polnische Familie gewohnt hat. Aber, im Grunde genommen haben wir das nicht gemerkt. Aber Juden. Die Juden haben wir dann, Juden waren mehr. Dann haben wir schon mitgekriegt, dass die abgeholt worden. Ja, wir haben das gesehen. Ja, um vier Uhr morgens kam die Gestapo und dann haben sie sie rausgeholt. Wurden sie mitgenommen. Wir haben gar nicht gewagt zu fragen. Wir haben gar nicht gewagt. Jeder wusste, die wurden abgeholt, aber wohin, das wussten wir nicht. Wir wussten nicht, wohin die gebracht wurden und wir haben auch gar nicht gewagt, groß zu fragen. Wir hatten Angst davor, dass wir auch abgeholt wurden. Zuerst wurden die Wohnungen versiegelt und dann wurden andere Familien da reingesetzt. (Der Haushalt) blieb alles so, wie es war, oder es wurde vernichtet. Öffentlich. Bücher, alles zum Fenster rausgeschmissen. Nein, konnte sich keiner was nehmen (lacht). Jeder hatte Angst gehabt was zu nehmen.

Wir haben ganz normal gelebt (mit den Polen und Juden). Wir haben mit allen Leuten guten Kontakt gehabt. Man kann nicht sagen, dass wir zu einem oder zum, zum... es gab größere Geschäfte, die polnische Juden hatten. Wir hatten mit allen guten Kontakten. Die sprachen alle deutsch.]

Sprecher: Als die Front der roten Armee sich der Stadt näherte. Versuchten viele Deutsche diese fluchtartig zu verlassen. Da der Vater von Frau Hintz am Umbau des Kriegsschiffes Willhelm Gustloff zu einem Flüchtlingsschiff beteiligt war, erhielt die Familie Karten für die Ausreise ins Reich. Dort kam das Schiff aber nie an, da es von drei russischen Torpedos versenkt wurde.

Hildegard Hintz: Wir hatten Karten bekommen auf für die Willhelm Gustloff. Zuerst haben wir gesehen wie die Leute sich da gedrängt und fast geschlagen haben, um auf das Schiff zu kommen. Es war unmöglich. Der Gauleiter Forster, von Danzig der Gauleiter, die hatten alle ihre Reichtümer, alles auf die Gustloff gebracht, um das irgendwie zu retten. Da waren Räume zur Verfügung gestellt worden für die Herren, dass die ihre Schätze da unterbringen konnten. Und dann kam ja das Volk. Jetzt waren da nicht genug Karten, die hatten ja nicht alle Karten. Karten hatten nur die Arbeiter bekommen, die auf der Gustloff gearbeitet hatten. Denen hatten Sie Karten gegeben. Und dann waren da vielleicht noch einige höhere von den Parteibonzen und so weiß ich nicht, wer noch Karten bekommen hatte, aber das der Größte Teil, der hatte keine Karten und da hatten die sich angestellt. Es ist nicht zu beschreiben, wie die Leute da mit ihrem Gepäck und mit den Kindern, wie die auf die Gustloff gekommen waren, also es war furchtbar. Und wie die dann voll war, wie die dann nicht mehr genügend Platz hatte, dann sind die restlichen Leute zurückgeblieben. Die haben geweint und geweint und geweint, weil sie nicht auf die Gustloff konnten. Dann ist die Gustloff ausgelaufen und die anderen sind zurückgeblieben. Naja, und was dann mit der Gustloff passierte, das haben wir auch nicht gleich erfahren. Erst nach zwei Wochen oder nach drei haben wir das erst erfahren, das die Gustloff untergegangen ist. Ich hatte eine Freundin, eine junge Frau, die hatten kurz vorher geheiratet, und der ganzen Familie haben wir unsere Karten gegeben. Ja ich habe auch nie wieder was von ihnen gehört. Aber es war gut gemeint, aber es war gut gemeint.

Sprecher: Zwei Monate nach dem Untergang der Wilhelm Gustloff marschierte die rote Armee in Danzig ein. Auch wenn die erste Begegnung mit einem russischen Soldaten nicht furchterregend war, musste sich Hildegard Hintz, damals 26 Jahre alt, mit zahlreichen anderen jungen Mädchen vor den russischen Soldaten verstecken.

Hildegard Hintz: Wir waren alle in der Waschküche unten, und plötzlich geht die Tür auf, und dann kommt ein russischer Offizier rein, sprach sehr gut Deutsch. Fragte wo deutsche Soldaten sind, ob noch deutsche Soldaten da sind. - Nein, es war kein Soldat mehr da. Naja, das war so der erste... die sind ja gar nicht schlimm, nicht, der hat ja nichts gewollt, hat auch nicht gesagt „Uhr. Uhr!“. Keine Uhr wollte er, nichts. Und wie die dann da waren, und sich eingelebt hatten, und eingenistet in das Haus, dann war’s ja lustig. Und dann kamen die Nächte! Und die Russen in dem Gästehaus der Danziger Werft das kann man gar nicht beschreiben, wie das war. Dann kamen die Russen und nahmen dann die jungen Frauen alle mit. Und wie wir die los waren, da waren wir nachher schon n bisschen klüger geworden. Wenn wir dann merkten, die kamen, dann sind wir jungen Frauen die Treppen rauf. Das Haus hatte ein Flachdach, da sind wir aut den Boden, da war eine Luke, und da haben wir eine Leiter genommen, sind wir aufs Dach raufgekletteil, und haben die Leiter hochgezogen, die Luke wieder zu gemacht, und haben uns am Kamin autgehalten. Die ganze Zeit, immer am Kamin gesessen.

Sprecher: der Platz auf dem Dach ihres Hauses wurde über Wochen zum Versteck für frau Hintz. Dort sitzend erfuhr sie auch vom ende des Kriegs am 09. Mais 1945.

Hildegard Hintz: Wir haben auf dem Dach am Schornstein gelegen und die haben geschossen, die haben geschossen wie wahnsinnig, wir haben gedacht „jetzt gibt’s doch nicht mehr zu schießen, warum, wo schießen die jetzt noch“ und dann haben wir erfahren, dass war das Kriegende.

Sprecher: In der großen Furcht vor der roten Armee gab es auch positive Erfahrungen. So erfuhr die Familie davon das in einer Backstube Brot verteilt wurde.

Hildegard Hintz: Ich bin mit meinen Kindern auch gegangen [...] und hab mich angestellt nach Brot. Als ich an die Reihe kam, da kommt einer dieser Soldaten und guckt auf meine kleine Tochter und sagt, „Willst du Brot?“ auf deutsch. „Ja“, sagt sie. Da hat er sie mitgenommen, ist in die Backstube gegangen, am Regal, wo die Brote alle lagen. „Welches willste haben?“ „Das, das, das und das.", sagt sie. Alle gab er ihr [lacht] Alle vier Brote gab er ihr.

Bruno Löpki

Bruno Löpki

*1928 in Prossitten, Kreis Rößel, Deutsches Reich
Nationalität: Deutsch
Aufenthalt am 8./9.5.1945: bei Husum, Schleswig-Holstein


■ Flucht vor der Roten Armee über das zugefrorene Frische Haff bis nach Schwerin; Aufnahme auf einem Hof in Nordfriesland; Umzug nach Rheinland-Pfalz

Transkript des Audios:

Sprecherin: Bruno Löpki erlebte die Kriegszeit als Schüler im Dorf Prositen in Ostpreußen.

Bruno Löpki: Der Lehrer war Nazi. Der kam immer mit der Uniform in die Schule. Aber nicht immer. Wenn er seine Uniform anhatte, dann hat er nen blöden Tag gehabt. Und dann ließ [er] uns auf dem Schulhof – ob da Matsch war oder nicht – exerzieren, mussten wir dann da rumkriechen im Dreck. Das war alles zur Schikane.

Sprecherin: Als im Januar 1945 die Rote Armee nach Ostpreußen vorrückt, blieb für die deutsche Bevölkerung nur noch der Fluchtweg über die Ostsee. Am 29. Januar schloss sich Familie Löpki dem Treck über das gefrorene Frische Haff an.

Bruno Löpki: Wir sollten vorher schon mal weg, aber da war der Russe wieder zurückgedrängt worden oder irgendwas. Jetzt war der Wagen schon fertig bepackt, wir wussten nicht, fahren wir mit dem Schlitten, fahren wir mit dem Wagen, weil auf einmal Tauwetter kam und da war so dickes Eis bei so 20 Grad Frost noch.

Sprecherin: Die Flucht über das Eis brachte viele Gefahren mit sich.

Bruno Löpki: Da waren wir mit 4 Kindern, Mutter und die Oma hatten wir noch mit, die haben wir unterwegs verloren, aber da waren wir was zu essen machen, und wie wir zurückkamen, ging der Treck weiter und die Oma war nicht mehr am Wagen. Die ist aufm Wagen geblieben. Wir habe gesucht, einer da, einer da – auf einmal ging der Treck weiter, ja, haben sie nicht gefunden. Und wie nachher der Krieg zu Ende war, und da hatten die auf einmal aus Thüringen geschrieben: Die Oma ist gekommen, ganz zerlumpt kam die an. Ganz verwirrt, die war sowieso ganz verwirrt. Und die ist noch etwas über 90 Jahr geworden in Thüringen im Altenheim.

Sprecherin: Der Flüchtlingstreck wurde durch die Rote Armee angegriffen.

Bruno Löpki: Es ging immer schnell, schnell, schnell und da war der [unverständlich] Gebrochen, da waren es ungefähr 50 Kilometer, wir hörten schon immer das Knallen, von den Geschützen. Und auf einer Seite ist das Militär gefahren, auf einer die Flüchtlinge, und dann kam auf einmal dieser Beschuss von den Tieffliegern immer. Ja, und dann waren auch viele Pferde getroffen, auch Leute. Wir sind Marsch gelaufen als Kinder. Einer musste immer an den Pferden bleiben, aber nicht dicht auffahren – auf dem Eis, meine ich. Nachher ja, da konnste auch dicht auffahren, aber auf dem Eis wegen Einbrechen [nicht]. Und die haben da auch drauf geschossen. Und wenn das Eis manchmal zu brüchig war, dann sind die so abgesoffen mit den Pferden. Und so tief war das ja nicht. Manchmal hat die Deichsel oben noch rausgeschaut und die Pferde haben dann noch gelebt und gezappelt und dann kamen die Soldaten mit Pistole, haben die Pferde erschossen, wenn jetzt welche eingebrochen waren, da konnt ja keiner mehr mit fahren. Da wurd das wieder abgesteckt ein Stück weiter – jetzt geht’s da weiter und das hat so lange gedauert auf dem Eis da. Und zum Schluss, da war das am Tauen und da haben alle einen Moment gedacht, jetzt ist der Wagen gleich weg und wir kamen rüber da. Und da kamen [wir in] Karlberg an, das ist auf der Nährung, da kamen wir dann raus.

Sprecherin: Angekommen in Danzig setzte Bruno Löpki mit seiner Mutter und vier Geschwistern die Flucht auf dem Landweg fort.

Bruno Löpki: Manchmal haben wir in der Schule übernachtet, da war ausgeräumt die Schule, da war Stroh reingesteckt. Und wenn man da reinkam, da haben all die Leute gewackelt, da hat das Stroh richtig gewackelt vor Leute. Da haben wir nachher alle Läuse gehabt – das war ein Gejucke und ein Gekratze. Einmal haben wir auch Brot geholt, vom Bäcker irgendwo halt. Ach, da gibt’s Brot. 5 km mussten wir da laufen, und da kam der Bäcker und das gebacken, so heiß, wie es kam, wurde immer geschmissen zwischen die Flüchtlinge, die standen ja alle Schlange. Dann wollt er [unverständlich]. Und dann in dem Wald wurden auch kleine Kinder geboren und alte Leute starben und der Boden war so knüppelhart, da könnt man nicht was aufgraben. Den Leuten oder kleinen Kinder, die wurden da verscharrt, bisschen mit Blattzeug, was im Wald da lag –

Tannennadeln und so. Das blieb alles so liegen am Rand, da hat keiner wat [gemacht], das ging ja gar nicht, zu beerdigen, das ging nicht. Und dann, wenn’s weiterging, immer nur weiter. Bis Schwerin sind wir mit dem Wagen gekommen. Einmal das eine Pferd umgefallen, das andere ging nicht mehr allein. Konnte ja nicht allein, war ja gar nicht gewöhnt allein, die waren immer zusammen. Ja und da hat die Mutter, die kriegte noch für das eine Pferd 500 Mark glaube ich sogar, das hat sie gekriegt.

Maria Anielski-Kołpa

Maria Anielski-Kołpa

*1931 in Schönfelde (Unieszewo) bei Allenstein, Deutsches Reich

Nationalität: als Deutsche geboren, später polnische Staatsangehörigkeit; bezeichnet sich selbst als Ermländerin

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Allenstein/Olszytyn


deutschstämmige Familie, die in der Heimat blieb; polnisches Abitur und Studium

Transkript des Audios:

Sprecherin: Für Maria Anielska aus dem ostpreußischen Allenstein, das heute in Polen liegt, begann der Krieg erst im Januar 1945. Damals war sie 14 Jahre alt und bekam, abgesehen von einigen Problemen mit den Lebensmittelkarten nicht viel von den Kriegsereignissen mit, da in ihrer Heimat keine Kampfhandlungen stattfanden.

Maria Anielska-Kolpa: Für mich persönlich fing der Krieg erstmal an, als die Russen hier einzogen. Da habe ich gespürt, dass das Krieg ist. Aber zuvor, kann ich mich nur entsinnen, dass in Allenstein, das war ein paar Tage bevor die Russen kamen, zwei Bomben eingeschlagen sind in die Häuser in der Draunzingerstraße und in der Hermann-Göring-Straße. Wir Kinder gingen nach den Schulstunden in die Drauzingerstraße, um uns anzusehen, wie ein Haus aussieht, in das eine Bombe eingestürzt ist.

Sprecherin: Das offizielle Kriegende 1945 bedeute für sie viele Veränderungen und brachte erst die eigentlichen Schwierigkeiten mit sich.

Maria Anielska-Kolpa: Für mich war der Krieg nicht zu Ende, ich konnte das ja Frieden gar nicht nennen. Wir wohnten nicht mehr in dem ehemaligen Ostpreußen, wir waren schon unter ganz anderen Regierungen unter anderen Leuten, anderen (…), die Leute haben eine ganz andere Sprache gebraucht und wir fühlten uns da als, als Minderheit von vorne an. Besonders dann als, nachdem die Russen eingezogen sind, noch viele Leute ausgewiesen wurden oder allein ausgefahren sind. Da blieben ja nur sehr wenige, im Großen und Ganzen wenige, zurück.

Sprecherin: Wer von der deutschen Bevölkerung noch nicht aus den ostpreußischen Gebieten geflüchtet oder ausgereist war, wurde aufgrund der Abkommen der Siegermächte ausgewiesen. Eine Minderheit ist geblieben. Darunter auch Familie Anielska.

Maria Anielska-Kolpa: Nachdem mein Vater eine Stelle an [der] Post bekam, nicht mehr als Postbeamter natürlich, er hatte als Hausmeister eine Stelle bekommen, da hat man uns in der Schillerstraße eine kleine Wohnung zugewiesen. Das war ein Zimmer und Küche für fünf Personen. Und in demselben Haus wohnten Leute, Polen, über uns wohnte eine Familie, das war eine kinderlose Familie, die bekamen eine große Wohnung, eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung, aber weil wir ja nur Schwaben waren, so nannte man uns, musste uns diese Wohnung genügen. Also waren wir eigentlich Leute der dritten oder vierten Kategorie.

Sprecherin: Das, was man Befreiung nannte, und in Allenstein ab 1945 jährlich als Befreiung gefeiert wurde, sieht sie aus einer anderen Sicht.

Maria Anielska-Kolpa: Ich kann mich noch entsinnen, das war für mich das Schwerste im Jahr, wenn wir am 21. oder 22. Januar die Befreiung, in Anführungsstrichen, die Befreiung Allensteins durch die russische Armee hier feierten. Da mussten wir immer an diesem Appell teilnehmen. Das fand immer in den Abendstunden statt und da musste man die Liste unterschreiben, dass man da ist. Das war für mich das Schlimmste, was ich nicht miterleben wollte. Ich, als ich dabei war, fühlte ich mich, als ob ich auch mitfeiern würde mit ihnen zusammen. Das war ja keine Befreiung, das war etwas ganz Furchtbares, das war eine furchtbare Okkupation, das war eine Vernichtungsarmee, das war eine, man nannte sie immer die Siegreiche Armee, was war das für eine Siegreiche, die so viel Unheil brachte. Die hat unsere ganze Stadt, unsere schöne Stadt abgebrannt. Hier waren ja keine Schlachten, die deutsche Armee hatte sich zurückgezogen und die Russen kamen rein, es kam ja zu keinen Schlachten und die haben das erstmal zwei Wochen oder drei Wochen später alles abgebrannt. Und worüber sollte man sich da freuen. Über eine solche Befreiung, dass sollte man Befreiung nennen? Naja, aber das konnte man ja nur denken, das konnte man ja nicht diskutieren. Ich freue mich, dass ich noch diese Zeit nach der Wende erleben konnte, dass man nicht in der kommunistischen Zeit (...), dass die kommunistische Zeit endlich zu Ende ist.

Halina Petrenko-Kuchartschuk

Galina Petrenko-Kucharczuk

*1923 in Stara Huta bei Ostroh, Bezirk Riwne, Woiwodschaft Wolhynien, Polnische Republik

Nationalität: Ukrainisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Region Riwne

 

■ Zahlreiche Brüder fielen im Kampf der Ukrainischen Widerstandsarmee (UPA), vor allem gegen die Rote Armee und die deutsche Besatzung; nur drei Familienangehörige überlebten den Krieg

Transkript des Audios:

Galina Petrivna Petrenko-Kuchartschuk: Ich heiße Galina Petrivna Petrenko-Kuchartschuk, und ich bin am 24.12.1924 geboren. Meine Familie beteiligte sich an der ukrainischen Widerstandsarmee, das heißt, wir kämpften sowohl gegen Sowjetsoldaten als auch gegen Deutsche. Die Nazis trieben uns nach Deutschland, die Sowjetsoldaten schlugen uns hart, ermordeten uns, wollten uns vernichten.

Sprecherin: Die Familie von Frau Petrivna Petrenko-Kuchartschuk beteiligte sich an der ukrainischen Widerstandsbewegung, der sogenannten UPA, die für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfte. Dazu gehörten die aufständigen Gruppen unter Petlura und Bulba.

Galina Petrivna Petrenko-Kuchartschuk: Mein Vater war seit den Zeiten von Petrula Widerstandskämpfer in der UPA. Mit dem Beginn des Krieges, das heißt von 1941 an, ging er wieder zur Widerstandsarmee. Auch einer meiner Brüder gehörte zur Widerstandsarmee, zu dem Teil der UPA, die unter der Leitung von Bulba stand. Nach einer Kampfausbildung sollte er mit acht anderen Kämpfern nach Kremenez gehen. Die Bolschewiken hatten mit den Bulba-Anhängern einen Nichtangriffspakt geschlossen, um gemeinsam gegen die Nazis zu kämpfen. Aber tatsächlich geschah es so, dass ein Monat nach diesem Pakt die Bolschewiken zusammen mit polnischen Truppen diese Gruppe der ukrainischen Widerstandskämpfer angegriffen haben. Darunter war auch mein Bruder Jaroslaw. Sie wurden in der Nähe des Dorfes Koptscha angegriffen. Alle wurden ermordet und in einen Brunnen in diesem Dorf geworfen. Ein anderer Bruder war als Krankenpfleger bei einer weiteren Gruppe der UPA. Er war im Osten und zog sich schwere Verletzungen zu. Glücklicherweise kam er danach wieder zu sich. Heute aber ist er nicht mehr am Leben. Von meinen sieben Brüdern sind also vier im Kampf gefallen, drei waren in Sibirien.

Mutter ist auch gestorben. Mutter wurde schrecklich geschlagen, hatte schwerste Verletzungen, der kleinste Bruder auch. Man wollte auch meinen Vater foltern, konnte ihn aber nicht finden. Man dachte, er sei irgendwo in der Nähe seiner Familie. Das war aber nicht der Fall. In der Tat kam Vater nie zu uns. Nach den Folterungen schmiss man meine Mutter und meinen Bruder in den Schnee. Mutter bekam eine Lungenentzündung, mein Bruder eine Gehirnentzündung. Es gab damals keine Behandlungsmöglichkeiten, wir baten um Hilfe, gingen von Haus zu Haus. Mein Bruder blieb dann taubstumm.

Nach dem Tode meiner Mutter musste ich mich um meine zwei kleinen Brüder kümmern, ich konnte sie nicht einfach im Stich lassen. Mir wurde alles weggenommen. Als ich nach einer Unterkunft für uns suchte, wurde ich unterwegs verhaftet. Das war im Jahre 1950, im März. Niemand achtete darauf, dass dann die Kinder ohne Mutter und ohne Obdach blieben. Ich ließ die Kinder bei den Leuten einfach auf dem Heu liegen, es war schrecklich – einfach auf dem Heu, alles war ausgeraubt, alles weg.

Sprecherin: Wer in der ukrainischen Widerstandsbewegung gekämpft hatte, wurde nach 1945 von den sowjetischen Sicherheitsdiensten verfolgt, so auch Frau Galina Petrivna Petrenko-Kuchartschuk.

Galina Petrivna Petrenko-Kuchartschuk: In der Untersuchungshaft war es sehr schwierig, die Vernehmung war hart. Man fragte nach Waffen, Archiven und geheimen Druckereien. Man versuchte auch, die Adressen von den Leuten herauszubekommen, wo ich mich versteckt gehalten hatte und zu essen bekam. Im Verhör befragte mich ein Oberst, während des Verhörs kam noch irgendein Mann aus Kiew dazu. Er sagte. er sei ein KGB-Minister für die West-Ukraine. Sie baten mich: „Sag, was du weißt, wir werden dich nicht weiterverfolgen, auch nicht vor Gericht führen. Wir führen dich an einen ruhigen Ort, geben dir Arbeit, die Kinder werden versorgt“. Sie meinten meine zwei Brüder.

Sie drohten mir damit, würde ich keine Auskunft geben, würde ich verurteilt werden. Dann kam ich zu einem Untersuchungsrichter, bei dem ging es wirklich los. Man prügelte mich, wenn ich in Ohnmacht viel, übergoss man mich wieder mit Wasser und schlug weiter.

Ich wurde von Moskau aus verurteilt, vom sogenannten „Sondergericht“. Selber habe ich das Gericht nie gesehen. Ich bekam 15 Jahre Haft.

Sprecherin: Auf die Frage, wann der Krieg für sie zu Ende war, antwortet Frau Galina:

Galina Petrivna Petrenko-Kuchartschuk: Ich glaube, bis heute nicht. Der Krieg geht weiter. Sagen Sie, wer war mit den Sowjets zufrieden? Ohne Gericht und unschuldig konnte man 25 Jahre Haft bekommen. Alle folterten uns, die Deutschen und die Bolschewiken, für was? Sagen sie bitte? Ich glaube, für unser Land, dafür, dass wir Ukrainer sind. Für mich bedeutet der 9. Mai nichts.

Nonna Prochorenko

Nonna Prochorenko

*1937 in Beresne, Region Riwne, Polnische Republik

Nationalität: Ukrainisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Region Riwne

 

■ Vater wurde 1939 zur Armee eingezogen und kehrte nicht zurück; Familie kämpfte in der Ukrainischen Widerstandsarmee (UPA); Folter und Verlust vieler Familienangehörigen im Kampf gegen die Rote Armee und die deutsche Besatzung

Transkript des Audios:

Sprecherin: Nonna Prochorenko wurde 1937 in der Stadt Beresno geboren. Ihre ganze Familie gehörte der ukrainischen Widerstandsarmee UPA an.

Nonna Prochorenko: Ich war in einer Armee, die Bulba Borovetski, „Ohne den Staat“, genannt wurde. Solch schreckliche Ungeheuer kommen aus Europa. Die Nazis aus Deutschland und die Kommunisten aus Russland. Anfangs hofften unsere jungen Nationalisten, Patrioten, einen eigenen Staat bilden zu können. Später sagten sie aber zu uns: „Wir werden sterben“. Die sagten, meine Tanten, all meine Gleichaltrigen, die sagten, auch meine Eltern, meine älteren Brüder und Schwester, wir werden sterben. Aber die Zeit würde kommen, da die Ukraine auferstehen wird. Wir würden nicht umsonst sterben. Meine Verwandten, der Mann einer Tante, der einer weiteren und der Verlobte einer dritten sind während der Kämpfe gegen die Bolschewisten ums Leben gekommen. Der eine war in der Kavallerie und ist im Kreis Riwne in der Nähe von Sarna ums Leben gekommen. Wir haben alles tief in unserem Gedächtnis behalten. Meine Geschwister und ich sind dann Waisen geworden. Und eine meiner Tanten, Marina, nahm uns alle zehn bei sich auf. Sie brachte uns die ukrainische Geschichte und ukrainischen Lieder bei. Sie erzählte uns, dass es einen Krieg gab, damit wir die Vorfahren und die ganze Geschichte nicht vergessen. Einmal kaufte mein Großvater gemeinsam mit seinem Bruder zwei Kriegsgefangene frei. Der eine hieß Ivan, ein Ukrainer, der andere Simon, ein Russe. Den Simon aus Krasnodar kaufte er frei, weil er im Sterben lag. Er hatte viele Wunden. Man hat ihn auf einer Karre auf unseren Bauernhof gebracht. Er ist schnell gesund geworden und hatte viel Kraft. Schon 1944, nach dem Tod unserer Familie, kam er nach Hause.

Sprecherin: Der Krieg hat die Feindschaft zwischen Polen und Ukrainern verstärkt.

Nonna Prochorenko: In einem Lindenwald, in dem der UPA-Anführer Hermaszewski stationiert war, und in dem meine Verwandten erschossen worden, hatte man angefangen, eine polnische Militärgruppe zu organisieren, die die Ukrainer überfallen und verbrennen sollte. Und zwar nur deshalb, weil sie verdächtigt waren, UPA-Anhänger bei sich aufzunehmen. Meine Tante hat den gleichaltrigen Jungs gesagt, dass sie nicht in den Wald gehen sollten, weil sie sonst getötet werden. Leider sind sie doch da hin gegangen und es kam später zu einem großen Kampf, in dem die meisten Polen gefallen sind.

Sprecherin: Es waren nicht nur Ukrainer, die die UPA unterstützen.

Nonna Prochorenko: Unsere Nachbarin gehörte zur UPA. Sie hatte mit Ärzten zu tun, vor allem mit einem Juden namens Laner, dieser Laner und andere UPA-Anhänger versorgten die UPA-Anhänger mit Medikamenten. Der Arzt sollte dann als erster getötet werden. Um nicht erschossen zu werden, tötete er jedoch sein Kind, seine Frau und sich selbst mit einer Giftspritze.

Sprecherin: Frau Nonna Prochorenko war acht Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging.

Nonna Prochorenko: Vom Sieg haben wir von unserer Lehrerin erfahren. Sie sagte, dass wir soeben gewonnen haben. Aber ich wusste, dass nicht wir gewonnen hatten, weil gerade erst vor einer Woche meine Tante vom Sowjetischen Sicherheitsdienst erschossen worden war. Sie hatte nicht gewonnen. Ich bin nach Hause gerannt und unsere Nachbarin, die auch zur UPA gehörte, sagte: „Kinder, das ist nicht unser Sieg, das ist ein schrecklicher Sieg. Stalin und die sowjetische Bande haben gewonnen. Es wird die Zeit kommen, da Amerikaner und Engländer uns helfen werden und wir werden unsere Ukraine wiederbekommen.“ Wir haben lange darauf gewartet, dass die Amerikaner und Engländer uns helfen würden und jetzt wollte ich noch sagen, dass ich daran glaube, dass diese Schrecken sich nie wieder wiederholen werden. Wahrscheinlich seid ihr schon so klug und zivilisiert, dass es nie mehr einen Krieg geben wird. Es wird alles an runden oder quadratischen Tischen gelöst werden. Und, dass ihr glücklich sein werdet, und das, was passierte, zu einem schrecklichen Märchen wird, das wir bis heute nicht loswerden konnten.

Volodimir Lavrenov

Volodimir Lavrenov

*1927 im Gebiet Mikolajev, Südost-Ukraine, UdSSR

Nationalität: Ukrainisch

Aufenthalt am 8/9.5.1945: Insterburg, Nordostpreußen

 

■ Soldat in der Roten Armee; Bewachung von Kriegsgefangenen; Frontoffizier bei der Eroberung von Königsberg - einer von wenigen Überlebenden; Verwundung an der Hand und Genesung im Lazarett in Insterburg; Auszeichnung mit Sowjetorden; Umzug nach Riwne wegen besserer Lebensbedingungen; heute engagiert in der Nationalen Partei der Ukraine (KUN)

Transkript des Audios:

Sprecherin: Volodymir Lavrenov, geboren 1927, kämpfte auf der Seite der Roten Armee bei Königsberg.

Volodymir Lavrenov: Ich spreche einfach ungern darüber, wie ich gekämpft habe. Ich erzähle nur vom Kampf, als die SS einen Gegenangriff vornahm. Wir waren zu dritt. Zu dritt von ursprünglich neun Soldaten. Ich überlebte. Dafür wurde ich mit dem Ehrenorden ausgezeichnet. Die Opfer möchte ich um Verzeihung bitten. Aber ein Soldat hört auf schuldig zu sein, sobald er seine Waffe abgegeben hat. Ich gebe auch dem keine Schuld, der auf mich geschossen hat, da ich auch auf ihn geschossen habe. Wenn ich ihm heute begegnen würde, dann könnten wir vielleicht Freunde sein. Da ich damals in der Westukraine lebte, war ich davon überzeugt, dass die, die in der UPA kämpften, einen ungleichen Kampf gegen die russischen Besatzer führten. Ich wurde zum Patrioten.

Sprecherin: Herr Volodymir Lavrenov beschreibt seinen Alltag an der Front.

Volodymir Lavrenov: Es gab zwar genügend Medikamente, Verbände und Jod, aber wir hatten immer Hunger. In Ostpreußen konnte man außer Kohlrüben auf den Feldern nichts anderes zu essen finden. Die Verpflegung war sehr schwierig, sodass wir immer hungerten. Da man ein 77kg schweres Maschinengewehr ziehen musste, wollten wir immer essen. Wir aßen Pferdefleisch und alles, was essbar war. Jegliche Verpflegung war zu gering. Wir waren dünn und dreckig.

Sprecherin: Der Kampf zwischen Wehrmacht und Roter Armee forderte Opfer auf beiden Seiten.

Volodymir Lavrenov: Von meiner Einheit war ich der einzige Überlebende. Später fand ich einen Landsmann, der am ersten Tag des Angriffs am Fuß verletzt worden war. Alle anderen sind umgekommen. Vor uns ging die 65. Division, die zu fast 100% geschlagen worden ist. Gegen Ende, als ich zu unserem Regiment ging, gab es nur noch 128 Soldaten. Obwohl meine Hände schießen mussten, war meine Seele dagegen. Ich war ein Soldat. Wer in mein Land gekommen ist, um es zu erobern oder meine Nation zu bedrohen, der ist mein Feind. Dies war einfach so, weil ein Soldat ein Soldat ist. Ich habe Kriegsgefangene gesehen, SS-Männer und Militär-Polizei. Jeder von ihnen war anders. Zu jedem hatte ich eine andere Einstellung. Als ich an der Front war, habe ich die Silhouetten [?] gesehen. Die entweder geflohen sind oder angriffen. Ich musste auf sie schießen, sonst hätten sie auf mich geschossen. Ich habe aber kein Hass empfunden.

Sprecherin: Volodymir Lavrenov erinnert sich an das Kriegsende.

Volodymir Lavrenov: Ich war im Saal eines Klosters, das zu einem Krankenhaus umfunktioniert worden war, und in dem viele Verletzen lagen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, welche der Soldaten in unseren Saal hinein gelaufen kam und rief: „Sieg! Sieg! Der Krieg ist zu Ende!“. Das war eine große Freude. Deswegen tranken wir Wodka.

In die Tage meines Lebens fiel auch die große Hungersnot von 1932-33, bei der die Hälfte des Dorfes umkam. Ich habe den ganzen Krieg gehungert, und eigentlich auch noch nach seinem Ende, bis ich eine Stelle als Schuldirektor bekam und etwas mehr Geld verdiente. Der Krieg ist für einen Soldaten erst dann zu Ende, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen und aufgrund seines gesundheitlichen Zustands als dienstuntauglich eingestuft wurde.

Sprecherin: Der 9. Mai hat auch heute eine Bedeutung für Herrn Lavrenov.

Volodymir Lavrenov: Ich habe das Recht, diesen Tag als Tag des Sieges zu feiern. Aber große Freude empfinde ich deswegen nicht. Ganz besonders dann nicht, wenn ich daran denke, dass unser Land, neben seiner Unabhängigkeit auch so viele Menschenleben geopfert hat. Das Wichtigste, wofür wir heute kämpfen, ist, dass unsere Gesellschaft und unser Parlament die Unabhängigkeitskämpfer der UPA als solche anerkennt, die ihr Leben im Kampf um die Unabhängigkeit eingesetzt haben. Und dass die, die noch am Leben sind, einen entsprechenden Status als Kämpfer für die Unabhängigkeit erlangen.

Gurij Buchalo

Gurij Buchalo

*1932 in Derman, Gebiet Riwne, Polnische Republik

Nationalität: Ukrainisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Gebiet Riwne

 

■ Umzug während des Kriegs in die Nähe von KZ Sobibor und Chełm

Transkript des Audios:

Sprecherin: Grurij Buchalo, der 1932 in der damals zu Polen gehörenden Region von Riwne geboren ist, hat bleibende Erinnerungen an den Einmarsch der Roten Armee zu Beginn des Krieges.

Gurij Buchalo: Unsere Landsleute, die Ukrainer, haben den Angriff der Faschisten schon am 1. September 1939 erlebt. In dieser Zeit waren etwa 120 bis 150-Tausend ukrainische Soldaten bei der polnischen Armee. Das Gebiet, in dem wir wohnten, wurde zwischen dem 18. [und] 20. September 1939 von der Roten Armee besetzt. Wir waren vom Aussehen der sowjetischen Soldaten beeindruckt. Erstens ihre Uniform. Sogar ihre Offiziere waren irgendwie primitiv gekleidet. Ich kann mich sogar noch daran erinnern, dass sie die Gewehre an Schnüren getragen haben. Sie konnte man nicht mit den polnischen Soldaten und Offizieren vergleichen. Später konnten wir dann verstehen, warum es so gewesen ist. Es lag daran, dass die russischen Soldaten an Hunger litten. Die Menschen, die nun in der Armee waren, hatten schon in den Jahren 1932 bis 1933 an der schrecklichen Hungersnot gelitten, die Stalin und die kommunistische Partei provoziert hatten. Und sie hatten auch die Repressionen von 1938 in Erinnerung. Auch ich kann mich an diese Zeit noch gut erinnern, obwohl es schon so lange her ist. In meinen Kindheitserinnerungen sind mir diese schrecklichen Geschehnisse im Gedächtnis geblieben.

Sprecherin: Grurij Buchalo wohnte als Junge in der Nähe des Konzentrationslagers Sobibor. Er bekam die schrecklichen Verbrechen an den Juden unmittelbar mit.

Gurij Buchalo: Nicht weit von unserem Dorf, nur wenige Kilometer entfernt, gab es einen schönen, uralten Wald. Im Jahr 1942 wurden dort intensive Bauarbeiten begonnen, die sowjetische Kriegsgefangene, natürlich unter Bewachung der SS, durchführten. Später stellte sich heraus, dass es der Bau eines schrecklichen Konzentrationslagers war. [Welches mit dem Namen] KZ Sobibor in die Geschichte einging. Eine eigene Eisenbahnlinie, drei, vier Kilometer von der Haupteisenbahnlinie entfernt, führte zu diesem Konzentrationslager. Stellen Sie sich ein Bild vor, es fuhr ein Zug heran, in den schönen Erste-Klasse-Wagons saßen hauptsächlich Juden, die aus ganz Europa hierhergebracht wurden. Sie wurden mit Blumen und einem Blasorchester begrüßt. Aber bevor sie in den Häusern, die da waren, untergebracht wurden, wurde ihnen angeboten, sich sanitär behandeln zu lassen. Sie zogen sich aus und dann wurde ein Giftgas verströmt. Sie starben. Dann wurden entsprechende Geräte für das Krematorium eingeschaltet. Wie die Dokumente besagen, wurden in diesem KZ täglich, ich betone es: täglich, 2500 bis 2700 Menschen ermordet. Und wenn der Wind von Sobibor in die Richtung unseres Dorfes wehte, konnten wir kaum atmen. Es war so ein ätzender, ekelhafter Wind der verbrannten menschlichen Überreste. Ich will Ihnen noch eine andere Episode erzählen: In den Jahren 1942 bis 1943 studierte und wohnte ich in der Stadt Holm. Ich kann mich erinnern, dass es in dieser Stadt, sie war nicht so groß, zwei Konzentrationslager gab, in denen sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert waren. Ich kann mich an ein Erlebnis erinnern. Wir gingen zum Unterricht, und an uns vorbei führten zwei Faschisten eine Frau. Das war neben einer Wand. Dann führten sie sie hinter die Wand, wir hörten einen Schuss und dann gingen die beiden Männer lachend zurück.

Sprecherin: Trotz Lebensmittelkarten war die Verteilung von Nahrungsmitteln unzureichend. So erinnert sich Herr Buchalo ans nächtelange Schlangestehen sowie [an] das Kriegsende, von dem er ebenfalls mitten in der Nacht erfuhr.

Gurij Buchalo: Tja, die Lebensbedingungen, sehen Sie, darüber kann man viel reden. Aber man kann sich vorstellen, dass Nahrungsmittel, hauptsächlich Brot, Graupen, Salz, über Lebensmittelkarten verteilt worden sind. Es war eine große Tragödie. Diese Karten wurden für einen ganzen Monat ausgegeben. Und wenn jemand diese Karten verloren hat, dann war das das Ende, das war alles. Versuchen Sie mal zu überleben. Noch ein Detail, damit es noch klarer wird: Die Menschen standen Schlange ab zwei, drei Uhr in der Nacht, um diese armseligen paar Hundert Gramm zu bekommen. Oft war es so, dass zum Beispiel eine Tonne nötig gewesen wäre und im Geschäft wurden nur 500g angeliefert, und wer zu spät kam, bekam gar nichts. Und einmal in der Nacht, es war drei Uhr, in der Nacht vom 8. Auf den 9. Mai, gab es eine große Schießerei. Wir wurden wach, überall Scheinwerfer. Ein Nachbar, der Eisenbahnarbeiter war, kam zu uns, klopfte ans Fenster und sagte: „Kapitulation“. Morgens bin ich in die Schule gegangen. Zur großen Freude der Schüler fand natürlich kein Unterricht statt. Unser Militärlehrer gab uns Waffen. Damals gab es in der Schule Militärunterricht. Jede Schule hatte ein Arsenal, wo es Schnellfeuerwaffen und Gewehre gab. Und nun salutierten die Jungs. Sie schossen so viel sie konnten. Danach fand im Stadion eine allgemeine Versammlung der Stadt statt, wo Sprecher auftraten. Natürlich war es eine große Feier. Was die Frage betrifft, ob ich den Tag des Sieges für einen großen Feiertag halte: Nun, ich glaube, dass es kein Feiertag für die Ukraine ist, weil ein Tyrann den Anderen ersetzte. Das ist die eine Meinung. Und die andere ist die: Ich glaube, dass es doch ein Feiertag ist, genauer ein Trauertag. Wo wir Tausenden oder gar Millionen Ukrainern in Ehren gedenken müssen. Sieben Millionen Ukrainer sind in dieser Zeit, der Kriegszeit, gefallen. Dann müssen wir ihnen an diesem Tag in Ehren gedenken, anstatt laut zu feiern und Paraden abzuhalten.

Josef Kuck

Josef Kuck

*1927 in Allenstein (Olsztyn), Deutsches Reich

Nationalität: Deutsch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Allenstein/Olsztyn

 

■ Beschäftigung bei einer Volksbank; erlebte die Verbrennung der Stadt durch die russischen Soldaten

Transkript des Audios:

Sprecherin: Herr Josef Kuck, geboren 1927, erlebte das Kriegsende in Allenstein.

Józef Kuck: Am 9. Mai wurde geschossen. Wie alt war ich? Achteinhalb. Schüsse, Schüsse, hier und da, überall fielen Schüsse. Wir hatten ein wenig Angst davor, was es war. Und dann erfuhr mein Vater – er sprach mit jemandem, wahrscheinlich einem Polen – , dass der Krieg vorbei war und die Leute vor Freude schossen.

Alle waren deprimiert über das, was passiert war. Dass das Ende kommt, dass Hitler den Krieg verliert – damit haben alle schon lange gerechnet. Denn wie kann man mit der ganzen Welt in den Krieg ziehen? Wenn jemand aber aussprechen würde, dass Hitler den Krieg verlieren würde, würde er sofort ins Konzentrationslager geschickt werden, weil er so was gesagt hat.

Sprecherin: Herr Kuck erinnert sich an den Übergang vom Krieg zum Frieden, insbesondere im Alltag:

Józef Kuck: Es wurde die polnische Verwaltung eingesetzt. Und dann wählten wir den Bürgermeister. Dann, im Herbst 1945, gab es schon die Schule. Im September 1945 fing ich an, eine polnische Schule zu besuchen. Wir waren sehr wenige, es gab viele Autochthonen, und sie schickten ihre Kinder noch nicht zur Schule, und die meisten von ihnen gingen erst nach einem Jahr zur Schule. Nach einem Jahr waren wir schon viele.

So fing es langsam an. Das Vieh war weg. Was ist den Leuten übriggeblieben, die vor Ort waren? Sie hatten praktisch nur noch Kartoffeln übrig. Und sie kochten diese Kartoffeln zum Frühstück, Mittag- und Abendessen. Aus der Hungersnot entwickelten sich die Krankheiten und viele Menschen starben. Von denen, die hierblieben, starben viele Menschen. Ja. Ich weiß nicht mehr wann, aber vielleicht 1946 oder 1947 gab es diese [Organisation] UNRA – westliche Hilfe aus Amerika. So fing man wieder an zu wirtschaften. Einige bekamen irgendwie Arbeit, die schon langsam organisiert wurde. Ja. Langsam kam es so.

Nach der völligen Zerstörung der Stadt durch die Russen, die nach ihrem Einmarsch Allenstein vollständig zerstörten und niederbrannten, fing das Leben wieder an.

Sprecherin: Auf die Frage, wann der Krieg für ihn persönlich endete, antwortet er:

Józef Kuck: Kriegsende (lacht)? Es ist schwer, hier etwas zu sagen ... Es gab die Besatzung und dann aber noch die russische [Besatzung]. Dann wurde man mit dem Terror der UB [polnisches prokommunistisches Sicherheitsbüro] konfrontiert. Es war die ganze Zeit Krieg. Für mich war die ganze Zeit Krieg. Ja. Hier herrschte die ganze Zeit Terror. Es herrschte immer noch Kriegsrecht. Es war, was es war. Diese Erinnerung ist schmerzlich. Nein, ich rede nicht gern darüber. Das ist wie das Öffnen von Wunden.

Otto Tuszyński

Otto Tuszyński

*1927 in Allenstein (Olsztyn), Deutsches Reich

Nationalität: Preußisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Allenstein/Olsztyn

 

■ blieb in Ostpreußen; heute Mitglied der Deutschen Minderheit

Transkript des Audios:

Sprecherin: Herr Otto Tuszynski, der 1927 in Allenstein geboren wurde, bezeichnet sich selbst als Ostpreuße. Bei seiner Vorstellung unterstreicht er, dass sein Vorname typisch Deutsch und sein Nachname typisch polnisch ist. Diese Mischung verursachte zu kommunistischen Zeiten öfters Probleme. Das Kriegsende erlebte er als zwölfjähriger Junge in Allenstein.

Otto Tuszynski: Also in Allenstein war im Januar ein unglaublicher Frost, so ungefähr -22 bis -27 Grad. Es lag viel Schnee. Einfach ein starker Winter. Die Russen marschierten in der Nacht vom 21. auf den 22. Januar in Allenstein ein. Das war von Sonntag auf Montag.

Es gab keinen Befehl zur Evakuierung der Stadt Allenstein durch die Machthabenden. Der Bürgermeister Shidat war schon lange nicht mehr in der Stadt. Überall waren Lautsprecher aufgestellt. Diese verkündeten zum Beispiel auch Luftangriffe.

Und was die Bombardierung betrifft, so wurde nur der Hauptbahnhof in Allenstein bombardiert. Dort wurden auch einige Leute von der Luftabwehr getroffen. Und schon die ganze Woche vor dem 22. Januar fuhren Panzer durch die Stadt, über die Grundwaldstraße. Sie kamen aus Süßen, aus Warschau, Czchanów, und Mława, und zogen weiter nach Königsberg. So sah die Front aus. Es gab hier keine Kämpfe!

Sprecherin: Die Familie von Herrn Tuszynski versuchte wie viele andere deutsche Familien aus der Region zu flüchten.

Otto Tuszynski: Wie sah die Flucht von hier weg aus? Viele Leute sind geflohen. Etwas besser hatten es die Landwirte. Da sie sich einen Planwagen bauen konnten, [mit] zwei Pferden davor. Die Reichtürmer auf den Wagen und sie fuhren los.

Am 21. Januar nachts so gegen eins waren wir alle in einem Schutzkeller versteckt. Dort gab es nur Notlicht, denn elektrisches Licht gab es nicht mehr. Es kam eine deutsche Patrouille, ein Offizier mit zwei Soldaten und er sagte: „Ihr seid noch hier? Russen sind schon auf der Brücke des Heiligen Nepomuk!“ Also sind wir losgezogen in Richtung Likus. Dort sind wir auf ein Fuhrwerk gestoßen. Durch den Schnee stampfen, auf einem Fuhrwerk hat uns ein Soldat mitgenommen, genauer: Meine Mutter und meine vier Geschwister. Und so sind wir von 2 Uhr nachts bis 11 Uhr morgens bis Lukt 35km gegangen. Man muss sich einfach vorstellen, wie das vor sich ging im Schneckentempo.

Dieser Soldat war verfroren. So fragte er mich, ob ich nicht das Fuhrwerk führen könnte, ich als Stadtjunge. Aber das war kein Problem. Aber irgendwann war mir auch sehr kalt. Das ging also sehr langsam. Ich als Junge war natürlich ständig überall unterwegs. Ich musste Essen finden. So auch in den Häusern und Kellern, die stehen geblieben waren. Denn die Russen nahmen nicht alles. Wenn eine gute deutsche Hausfrau gute Vorräte für den Winter angelegt hatte, so konnte man dort Eingemachtes in Weck-Gläsern finden. Obst und Weiteres. Wenn man ein Glas mit Schmalz fand oder eingemachte Koteletts, dann war das ein großer Erfolg. Die Russen nahmen so etwas nicht mit, denn sie kannten diese Weck-Gläser nicht. Sie dachten, es könnte eine Falle sein, dass sie jemand vergiften will. Denn dies war mit einem Gummiband oder Folie eingekocht, und so ein Einmachsystem kannten sie im Osten nicht. Dort benutzt man Fässer, oder Tontöpfe mit einem Stein beschwert. Da meine Schwiegermutter aus Riwne kommt und eine sehr gute Hausfrau war, kenne ich jetzt diese Angelegenheit auch. Schlimmer war es mit der Versorgung mit Brot. Bei uns in der Familie hatten wir sechs Kaffeemühlen. Gegenüber war ein Speicher, Korn war dort keines mehr drinnen. Aber in den Ecken lag noch etwas Korn, dort konnte man noch etwas zusammensammeln. Unsere Mutter trocknete das auf einem Blech und wir hatten alle zwischen den Knien eine Mühle, auf „Grobmahlen“ eingestellt, und die ganze Familie mahlte das Korn. Es herrschte ja Hunger. Spatzeneier habe ich gesammelt in Dachrinnen.

Meine Altersgenossen, deren Eltern in Dresden oder in Berlin wohnten, dort war die Bomb[ardier]ung der Alliierten. Diese Kinder wurden zum Schutz vor den Bomben hier nach Ostpreußen gebracht. Sie waren hier ein Jahr oder länger und dann plötzlich, Blockade, auf Wiedersehen. Die Russen marschierten ein. Man wusste nicht weiter. Die Menschen hatten Angst, Angst den Ort zu verlassen. Die Leute warteten auf etwas, irgendein Wunder. Es gibt so ein Gedicht: „Es kann ja nicht immer so bleiben, so unter dem wechselnden Mond“.

Irena Baranowska-Tylman

Irena Baranowska-Tylman

*1921 in Wilna (Vilnius), Polnische Republik

Nationalität: Polnisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Poznań

 

■ Pfadfinderin; Mitglied der polnischen Heimatarmee

Transkript des Audios:

Baranovska-Tylman: Ich heiße Irene Baranovska-Tylman, stamme aus [Vilnius] und bin dort 1921 geboren.

Sprecherin: Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam für Frau Baranovska-Tylman überraschend.

Frau Baranovska-Tylman: Im August war die Mobilmachung und der erste Tag des Krieges. Wir dachten irgendwie nicht, dass sie uns sofort bombardieren würden, aber am schlimmsten war für uns der 17. September, der Einmarsch der Roten Armee.

Sprecherin: Frau Baranovska-Tylman, die später Mitglied der polnischen Heimatarmee werden sollte, begann ihre Beteiligung am Kriegsgeschehen als Pfadfinderin.

Frau Baranovska-Tylman: Also, ich war Pfadfinderin. Es gab keine Postzustellung. Wir stellten Briefe zu, machten Botengänge. Also Schule gab es nicht mehr. Von morgens acht Uhr an bis zum späten Nachmittag liefen wir mit verschiedenen Aufgaben. Und so beteiligten sich die Pfadfinderinnen an der Mobilmachung.

Sprecherin: Das Kriegsende erlebte Frau Baranovska-Tylman in der Region Großpolen.

Frau Baranovska-Tylman: Ich war in der Zeit in Posen. Die Posener freuten sich sehr, dass die Russen einmarschiert sind, dass es jetzt ganz anders wird. Und ich, die ja wusste, welcher Terror bei uns in [Vilnius] war, habe ihnen erklärt, dass es gar nicht so gut ist, dass die Russen auch so „Deutsche“ sind, nur in einer anderen Ausgabe. Aber sie waren entrüstet, wie ich solche Dinge erzählen konnte. Sie haben mir einfach nicht geglaubt, dass wir gefoltert worden sind, dass unsere Familien deportiert worden sind, dass zigtausende Menschen gestorben sind. Sie haben es einfach nicht geglaubt. Für mich war das kein Ende des Krieges.

Sprecherin: Die Nachkriegszeit war für Frau Tylman eine ständige Flucht vor der drohenden Gefahr, als ehemaliges Mitglied der Heimatarmee verhaftet zu werden.

Frau Baranovska-Tylman: Also, bei mir hat auch das NKWD1 sein Amt ausgeübt. Mein Vater wurde in Workuta verhaftet. Er kam nie wieder. Meine Mutter wurde auch verhaftet, sie kehrte nach ein paar Jahren wieder, und ich musste mich entscheiden: entweder verhaftet und deportiert werden oder fliehen ins Ausland. Später war ich in Breslau. Dort in Breslau haben wir begonnen, unsere Wurzeln, unsere Vergangenheit in der Heimatarmee ausfindig zu machen. Wir zogen um nach Giżycko [Lötzen], doch gerade dort in Giżycko [Lötzen] kam so eine Sache von Adam Borotzki ans Tageslicht. Ich war Mitglied seiner Truppe. Er war Spion, französischer oder deutscher. Sodass sie auch hier in Giżycko [Lötzen] anfingen, uns zu verfolgen. Also zogen wir um nach Ostrołęka [Ostrolenka], weiter nach Stawiguda [Stabigotten], wo es Gott sei Dank dann zu Ende war.

Sprecherin: Im Ermland endete somit glücklich die Flucht von Frau Baranovska-Tylman. An ihre Heimatstadt [Vilnius] denkt sie allerdings bis heute mit Wehmut zurück.

Frau Baranovska-Tylman: Also, wir mussten einfach vor der Hetze der polnischen Staatssicherheit fliehen. Wir suchten irgendwann Schutz und so ergab es sich glücklicherweise, dass wir hier in Stawiguda [Stabigotten] einfache Häuser bekamen und bis heute wohne ich hier. Aber ich mag diese Gegend. Sie erinnert mich sehr an unsere Heimat. Die Region von [Vilnius]. Es gibt Hügel, Wälder, Seen, sodass ich mich hier sehr gut fühle. Aber die Sehnsucht nach [Vilnius] besteht bis heute. Und so versuche ich jedes Jahr, ein Mal nach [Vilnius] zu fahren. Für mich ist das eine wunderschöne Stadt.

Sprecherin: Die Alltagsprobleme sah sie nicht so tragisch.

Frau Baranovska-Tylman: Wir haben uns über die materiellen Bedingungen nicht beschwert. Die ganze Kriegszeit habe ich gehungert. Ein Zuhause hatte ich nicht. Ich war obdachlos. Da zu Hause die NKWD war, ging ich zu den Nachbarn zum Beispiel ins Heu, falls ich nicht wusste, wo ich übernachten sollte, oder ich schlief auf dem Dachboden. Irgendwie waren für mich diese materiellen Bedingungen nicht so wesentlich. Es gab Kartoffeln, die waren gut. Und wenn es keine gab, dann war es eben Pech. Dann sollte es vielleicht morgen wieder welche geben.

1 Abkürzung für das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (Narodny Kommissariat Wnutrennich Del) der Sowjetunion

Tadeusz Żuk

Tadeusz Żuk

*1921 in Wilna (Vilnius), Polnische Republik

Nationalität: Polnisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Warschau

 

■ Soldat der Polnischen Heimatarmee; Zwangsarbeiter bei einem deutschen Betrieb

Transkript des Audios:

Sprecherin: Als der Krieg ausbrach, war Tadeusz Zuk 18 Jahre alt und hielt sich in seiner Heimatstadt Vilnius auf.

Tadeusz Zuk: Und was geschah in den ersten Tagen? Hier war viel in Bewegung, denn die Leute kamen und meldeten sich hier zum Kriegsdienst. An eine besonders interessante Sache erinnere ich mich: Es kamen viele von den Dörfern in die Stadt, davon wissend, dass es einen Aufruf zum Militär gab. Die Leute hatten ja schließlich keine schriftliche Einberufung in die Hände bekommen. Sie haben nur davon gehört, dass man sich freiwillig melden kann. Es gab Aushänge, im Radio wurde dazu aufgerufen, sich zu melden. Und alle fragten herum, wo sie sich nun melden könnten zum Militär. Und es kamen nicht nur Polen, es meldeten sich die unterschiedlichsten Nationen zum Militär. Wenn also ein Weißrusse kam, so sprach er etwas Polnisch und etwas Russisch. Und auch er suchte die Möglichkeit mitzukämpfen. Polen wollten alle schützen.

Sprecherin: Dier Erinnerung an das Kriegsende weckt bei Herrn Zuk bis heute viele Emotionen.

Tadeusz Zuk: Als der Krieg zu Ende ging, das war am 9., da gab es große Feierlichkeiten. Es wurde geschossen, und ich war in Warschau. Alle freuten sich, dass der Krieg zu Ende war. Es wurde geschossen, alle hatten Waffen. Militär, Sowjetarmee. Alle freuten sich. Nur, dass hier das Ende des Krieges mit den Deutschen war, weil die Deutschen sich ergeben hatten, nur das. Dies war nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges, so wie heute alle davon sprechen. Das ist doch ein Hohn, vom Kriegsende zu sprechen und danach wurden noch zwei Atombomben geworfen. Das ist doch Schwachsinn, nicht wahr? Nein, nein, für uns war der Krieg nicht zu Ende, er ging weiter. Warum? Unabhängig davon, was verkündet wurde, unabhängig von schriftlichen Abkommen, Tatsache ist, dass wir doch während der Kriegszeit aktiv waren. Wir gehörten doch zur AK, zur polnischen Heimatarmee. Aus diesem Grund war der Krieg nicht für uns zu Ende, da wir überall verfolgt worden sind. Man konnte sich dazu auch nicht bekennen. Für uns ging der Krieg immer weiter. Ich zum Beispiel, als ich nach Polen kam, bin ich ohne Papiere eingereist, auf Grundlage der Dokumente eines Freundes, den ich getroffen hatte, als wir Partisanen waren. In einem Kampf wurde mein Freund am Bein getroffen, er war verletzt. Und als er ins Krankenhaus gebracht werden sollte, hatte man Sorge, dass es zu Problemen für seine Familie führt. So nahm ich also besser seine Papiere. Aber es stellte sich heraus, dass meine Papiere noch schlechter waren als seine, denn meine ganze Familie wurde in der Zwischenzeit verhaftet. Ich reiste also mit seinen Dokumenten nach Polen ein und traf ihn hier in Allenstein wieder. Also musste ich erneut meinen Namen ändern, denn es durfte ja keine zwei Henrik Sufranovicuks [Name nur nach Gehör geschrieben] in einer Stadt geben.

Sprecherin: Während des Krieges gehörte Herr Zuk zu den Partisanen. Das Alltagsleben der Soldaten in der polnischen Heimatarmee AK ist ihm in guter Erinnerung geblieben.

Tadeusz Zuk: Wann schliefen wir eigentlich? Wir schliefen am Tag, denn nachts bewegten wir uns von einem Ort zum anderen. Denn nur nachts konnte man außer der Reichweite der Flugzeuge oder irgendwelcher Späher weiterkommen, sodass es niemand bemerkte. Wir mussten unseren Aufenthaltsort wechseln, denn die Deutschen konnten uns an jedem Ort umzingeln, also haben wir die Aufenthaltsorte gewechselt und schliefen am Tag. Natürlich wurden Wachen aufgestellt und natürlich haben wir unsere Sachen nicht ausgezogen, das war klar. Ich besaß hohe Schuhe, das heißt ich habe hohe Schuhe bekommen, denn ich trug immer irgendwelche Schuhe, es gab ja keine Schuhe. In der Stadt trug ich Holzschuhe. Diese Schuhe wurden einfach in Beschlag genommen. Wie habe ich dann diese hohen Schuhe bekommen? Ich war ein junger Partisane, der zur Truppe dazugestoßen ist, und dort gab es auch schon Ältere, Verdientere. Allerdings habe ich recht kleine Füße und so hatte ich Glück. Da war so ein unangenehmer Typ, und sie sagten, er hat neue Schuhe, die müssen wir aber in Beschlag nehmen. Aber niemandem passten diese Schuhe, nur mir. Und so hatte ich direkt gute Schuhe. Wir schliefen einer neben dem anderen in jeder Hütte, nicht in den Wäldern. Anfangs hatten wir so einen Bunker, in diesem Bunker schliefen wir, als wir noch wenige waren. Aber später, als wir mehrere wurden, als wir viele waren, etwa 100 Personen, alle in Uniform, auf Pferden, dann nicht mehr. Was machten wir zwischendurch? Natürlich entstanden einige Lieder. Unsere Hymne, von einem unserer Poeten geschrieben, der nicht mehr lebt. Sie begann mit den Worten: „Zu einem harten Kampf, zu blutiger Schlacht mit den Feinden wurde jeder von uns von seines Gewissens Stimme gerufen.“

Sprecherin: An die kommunistische Zeit in Polen erinnert sich Herr Zuk mit gemischten Gefühlen.

Tadeusz Zuk: Obwohl es eine russisch-polnische Besatzung war, war es keine Freiheit, leider. In dieser Zeit, das war das Perfide an dieser Staatsform, war der Kommunismus scheinbar für uns. Natürlich, es gab Schulen, viele Feierlichkeiten, aber das war alles nicht echt. Aber wir haben diese genutzt. Gibt es zum Beispiel zurzeit in Olschin eine Hockey-Mannschaft? Stellt euch vor, wie viele Mannschaften es gab, als ich Hockey gespielt habe. Es gab drei. Natürlich war es aber auch schlecht. Denn man konnte in der Arbeit nicht aufsteigen. Dazu musste man der Partei angehören. Ich habe hier längere Zeit gearbeitet, ja, als nichts eigentlich. Na, wer war ich? Ein Angestellter, als Taschenrechner, als Verwalter habe ich gearbeitet. Notwendig war ein Studium. Das Studium stand mir kurz bevor. Als ich begann, auf dem Bau zu arbeiten, stellten sie fest, dass ich viele Dinge gut kann, ich bin ja nicht dumm. Sie wollten mich zum Studieren schicken. Aber welch wunderbare Bedingungen gab es damals, ein Studium mit einem Stipendium wurde mir angeboten. Alles wunderbar, aber gehören Sie der Partei an? Nein? Der Partei nicht zugehörig? Na, dann war es nicht möglich, und so ging es zu Ende.

Anna & Michał Maruszczak

Anna Maruszczak

*1925 in Arłamów (Kreis Przemyśl), Polnische Republik

Nationalität: Ukrainisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Arłamów

 

■ 1947 mit der ganzen Familie durch die Aktion Weichsel zwangsumgesiedelt

Michał Maruszczak

*1927 in Arłamów (Kreis Przemyśl), Polnische Republik

Nationalität: Ukrainisch

Aufenthalt am 8./9.5.1945: Arłamów

 

■ vertrieben mit der ganzen Familie durch die Aktion Weichsel; Zwangsarbeiter bei einem deutschen Bauern.

Transkript des Audios:

Herr Michal Maruszczak, Jahrgang 1927, erzählt vom Beginn des Zweiten Weltkrieges in Arłamów. Ein Dorf mit einer mehrheitlich ukrainischen Bevölkerung, das jedoch seit 1921 innerhalb Polens (Zweite Polnische Republik) in den Vorkarparten lag.

Herr Maruszczak: Ich war damals 11 Jahre alt. Am 1. September 1939 fanden die ersten deutschen Luftangriffe statt. Damals wussten die Menschen noch nicht, dass das Krieg sein könnte. Es fanden direkt Einberufungen statt – am 1. September. Obwohl in diesen Gebieten im Süden [Polens] die Mehrheit der Bevölkerung ukrainisch war, wurden die jungen Männer als Soldaten eingezogen. Sie nahmen die jungen ukrainischen Männer zum polnischen Militär.
Schon am dritten Tag marschierten die Deutschen in unser Dorf ein, da wir im Süden in der Nähe der tschechoslowakischen Grenze wohnten. Eine mächtige Armee war das. Mit Panzern und Bussen fuhren sie ein in unsere armen Dörfer. Verteilten Bonbons und Süßigkeiten und Schokolade. Ich sah damals als Junge gar keine Feinde in der deutschen Armee. Sie behandelten die Menschen einfach sehr gut.

Sprecher: Haben die Deutschen sie als Polen oder als Ukrainier behandelt?

[In unserem Dorf sprach eine Person sehr gut Deutsch, da haben sie sich verständigt und dann haben die Deutschen sich orientiert und verstanden, dass hier eine ukrainische Bevölkerungsmehrheit wohnt. Allerdings wohnten in unserem Dorf auch Polen.]
Es machte für sie [die Wehrmacht] keinen Unterschied, [ob wir Ukrainer oder Polen waren], anfangs. Spüren konnte man das später. [Anfang September marschierten bei uns die Deutschen ein und schon im Oktober kam die russische Armee. Wir waren bis 1940 unter russischer Besatzung (wörtlich „unter den Russen").]

Frau Maruszczak: Die Russen flohen, die Deutschen kamen und dann begann eine andere Geschichte.

Sprecherin: Frau Anna Zubalska, die künftige Frau von Herrn Marusczak [die aus dem gleichen Dorf stammt wie Herr Marusczak], erinnert sich an die deutsche Besatzungszeit ab 1941. Denn nachdem ihre Heimat bis 1940 von der russischen Armee besetzt war, rückte nun wieder die Wehrmacht vor. Während der deutschen Besatzung mussten viele Zwangsarbeit leisten.

Frau Marusczczak: Anfangs war alles gut, aber dann nahmen sie die Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. [Meine Schwester nahmen sie nach Deutschland [zur Zwangsarbeit].]

Herr Marusczczak: Sie nahmen die Menschen zur Zwangsarbeit. So nahmen sie auch mich, ich kam zu einem reichen Deutschen. Er war, glaube ich, ein Ortsvorsteher von diesem Ort. Ich hatte es dort ziemlich schwer. Ich wurde vielleicht mehr von ihm diskriminiert als diejenigen, die in Deutschland zur Zwangsarbeit waren. Ich habe bei ihm bis 1944 gearbeitet, bis die Russen kamen, die unser Dorf befreit haben, die westliche Ukraine. Als sie einmarschierten, habe ich ihm direkt am nächsten Tag gesagt, dass ich nach Hause gehe.

Sprecherin: Das Ende des Krieges ist für das Ehepaar Marusczak nicht einfach zu datieren.

Herr Maruszczak: Für uns ging der Krieg weder 1944 noch 1945 zu Ende. Also nicht in meiner Jugend. Der Krieg ging hier [in Ostpreußen] für uns zu Ende. Und das noch nicht einmal ganz.

Sprecherin: Im Rahmen der sogennanten Aktion Weichsel wurde das Ehepaar Marusczak 1947 in das ehemalige Ostpreußen umgesiedelt.

Herr Maruszczak: Uns haben sie ausgesiedelt. Anfangs haben die Russen einen Teil der Bevölkerung in die sowjetische Ukraine vertrieben. 170 Hausnummern aus unserem Dorf. Vom Rest haben sich einige in den Wäldern versteckt oder sie hatten polnische Namen und konnten so bleiben. Sie haben sich später in Gruppen organisiert. Von 1945-1947 haben wir in Arłamów gewohnt.
Später haben sie uns am 1947 ausgesiedelt. Innerhalb von zwei Stunden mussten wir alles packen. Na, was konnten wir packen? Nichts! Wir nahmen nichts von zu Hause mit. Weder eine Axt noch eine Säge durfte man mitnehmen. Die polnische Armee kam und innerhalb von zwei Stunden musste man alles mitnehmen und los, es hieß „Ihr fahrt weg“. Wohin und warum, wusste niemand.
Ich war damals 19, 20 Jahre alt und das war auch alles direkt so chaotisch. Uns haben sie dann mitgenommen. Meine Mutter, meine Schwester und mich, denn mein Bruder und meine andere Schwester sind ja nicht zurückgekommen nach dem Krieg aus Deutschland.
Zu Fuß mussten wir gehen, mit dem Pferd, und eine Kuh, dann hatten wir noch ein Kalb, denn die Kuh hatte unterwegs gekalbt. Angekommen [in Ostpreußen] wurde uns ein Haus gezeigt. Total zerstört. „Hier“, so sagte uns der zuständige polnische Ortsvorsteher, „hier werdet Ihr wohnen, das ist euer Haus.“ Na gut, dann bin ich hineingegangen durch das Tor, da kommt ein großer Mann, und sagt: „Du polnisches Schwein“. So scharf hat er das gesagt, aber ich konnte etwas Deutsch, und sagte ihm – „ich nicht polnische Schwein, ich ukrainisches Schwein".
Und was den Deutschen betrifft, der uns nicht in sein Haus lasse wollte, dafür kam der Ortsvorsteher, der uns dort hingebracht hatte zurück, weil ich immer zu ihm gegangen bin und gesagt habe, dass uns der Deutsche nicht in sein Haus lassen will – und hat ihn geschlagen, was mir sogar leid tat. Es [tat mir leid] um den Deutschen. „Und hier", so sagte der Ortsvorsteher und führte uns bis ins Haus, „hier werdet Ihr wohnen“. Der Deutsche hatte gedacht, wir wären wirklich irgendwelche Banditen. Allerdings haben wir uns innerhalb von kürzester Zeit so sehr mit dem Deutschen eingelebt.

Sprecherin: Das gleiche Los traf Frau Marusczak. Auch sie wurde in das Gebiet der ehemaligen Ostpreußen vertrieben.

Frau Marusczczak: Die Fenster eingeschlagen, keine einzige Fensterscheibe, der Küchenofen zerbrochen. Mein Gott, überall Glas, also es war einfach unmöglich, dort zu wohnen. Ich war die Älteste, ich war 20. Wir haben gehungert. Wir hatten kein Salz, nichts. Ausserdem musste man sich noch fürchten, denn es gab Überfälle. Aber, als sie uns hier her gebracht hatten, wir hatten gute Nachbarn, die uns sehr geholfen haben.

Herr Marusczak: Wir sind hier angekommen und man musste sich anmelden. Die Beamtin schrieb mich ein, die ganze Familie. Ich hatte einen Ausweis, alles. Ein Fragebogen war auszufüllen. Aber sie sagte: „Aber Du bist doch Pole!“ Ich sagte: „Was für ein Pole, ich bin doch kein Pole, sondern bin aus dem südlichen Polen umgesiedelt worden. Ich bin Ukrainer!“
Für uns ist bis heute kein Schlussstrich. Denn die, die nichts als Entschädigung bekommen haben, also wir zum Beispiel, haben eine Landwirtschaft, ein neues Haus und Feld zurückgelassen und haben nichts dafür erhalten. Solange die polnische Regierung nichts in dieser Hinsicht unternimmt, ist mein Krieg noch nicht zu Ende. Bis dort beim Herrn Gott.

Sprecherin: lhre Erinnerung hat die ukrainische Bevölkerung in einer besonders persönlichen Form festgehalten, in einem Lied, das bis heute gesungen wird.

Herr und Frau M. singen:

Und am Sonntag Morgen, bevor die Sonne aufgegangen ist, marschierte in unser Dorfschon die Armee ein.

Und als sie angekommen waren, gaben sie den Befehl, dass sich innerhalb von zwei Stunden das ganze Dorf versammeln soll.

Und sie gaben uns Ausweisungen und sagten uns, dass wir im es im Westen besser haben werden.

Das Feld nicht gepflügt, das Korn nicht gemäht, nur die Mauern total zerstört.

Dörfer, unsere Dörfer, wir werden euch nicht vergessen. So lange wir leben werden,werden wir Euch besuchen.

Frau Marusczczak: Und genau so war es!